Bitte bleiben Sie krank

Es ist eine meiner liebgewonnenen persönlichen Gewohnheiten, ausschließlich am Wochenende akuter medizinischer Versorgung zu bedürfen. Zum Glück haben Krankenhäuser kundenfreundliche Öffnungszeiten.

»Das müssen wir mit Vollnarkose machen – zirka zwei Tage stationär«, urteilte der Diensthabende. Immerhin hatte ich ein Buch dabei. Ich mußte eine Menge Unterschriften leisten – unter anderem eine Einverständniserklärung für eine eventuell medizinisch indizierte Notschlachtung und die obligatorische Generalamnestie bei ärztlicher Fahrlässigkeit – und versprach hoch und heilig, bis zur morgendlichen Achtuhr-OP nüchtern zu bleiben.

Ab Mitternacht unterließ ich auf Weisung auch das Wassertrinken. Für die voluminöse Blutspende hätte mir das Rote Kreuz eine Wochenration Zigaretten finanziert… als ich diesen Gedanken laut aussprach, glotzten mich verständnislose Nachtschwesternaugen an. Der Mythos von der deutschen Humorlosigkeit muß in deutschen Krankenhäusern seinen Ursprung haben. Dennoch blieb mein Urvertrauen in die Schulmedizin unerschüttert. So schlummerte ich ruhig dem Narkosetermin entgegen, der mir, so hoffte ich, meine gewohnte Schlafphase bis in die Mittagsstunden gewährleisten sollte. Ach, war ich naiv.

6:30. Rums, die Tür geht auf. Thermometer werden verteilt. Rums, Tür geht zu. Ich hatte vergessen, daß Nachtaktivität pathologisch klassifiziert ist, was man im Hospital natürlich prima gleich mitkurieren kann. 6:50, Rums. Blutdruck messen, Puls zählen (Zu schwach? Ich komm doch grad vom Sport). 7:00, Rums. Bettenmachen. Während ich auf einem Stuhl weiterschlafe, wird das Laken glattgestrichen und das Kissen aufgeschüttelt. Ich sollte dankbar sein für soviel Fürsorge. Rums – 7:05 – Rums. Putzwagen. Rums. Das Frühstück beschloß ich zu verschlafen, um meinen knurrenden Magen nicht unnötig zu quälen.

Um 8 Uhr rüttelte man mich wach, um mir mitzuteilen, daß meine OP auf unbestimmte Zeit verschoben werde und ich bis dahin am besten noch ein bißchen schlafen sollte. Ich zählte bis zehn. Gegen elf Uhr war ich so verdammt nüchtern, daß ich halb im Delirium lag. Um 11:30 brauchte ich keine Scheißegal-Spritze mehr und wurde lallend direkt in den OP gekarrt. In solchen Momenten erwacht mein Galgenhumor; ich bat einen grüngewandeten Herrn um eine letzte Zigarette. Das mit der Humorlosigkeit werde ich mir künftig merken… Das letzte, was ich in meinem Leben wahrnehmen sollte, war die nackte Realität einer vor 40 Jahren schlampig gekachelten ehemaligen Waschküche mit rissigen Decken, aber immerhin recht schicken OP-Kandelabern und der Maschine mit dem ‘Ping’. Das Fernsehen lügt. Sterilität ist lediglich eine Glaubensfrage.

*

Noch im Aufwachen wurden mir eine Menge Fragen gestellt. An die Tatsache kann ich mich erinnern, allerdings nicht an den Inhalt. Das ist eine ganz normale Nebenwirkung des Wahrheitsserums. Ich rechne täglich mit einem Besuch des Bundesnachrichtendienstes… Humor beiseite. Die Visite eröffnete mir später, daß ich eine Woche Vollpension gebucht habe. Höflich begehrte ich auf. Eine noch unverdorbene Famulantin bedachte mich mit einem beiläufigen Blick, bevor dieser sich wieder an die Lippen des vorsitzenden Halbgotts heftete. Ansonsten blieb ich unbeachtet. Anderntags wagte ich wiederum, darauf hinzuweisen, daß ich angesichts dringlicher Termine eine möglichst rasche Entlassung anstrebe und mir bei der Aufnahme lediglich zwei Tage aufgebrummt worden waren. Das Wort »sub-optimal« kenne ich. Soll heißen: Der Kollege hat sich gründlich geirrt – aber sowas spricht keine Weißkittelkrähe offen aus. Friede.

Bis auf die tägliche Stationsroutine (von Rums bis Rums) und eine jeweils 2minütige Wundversorgung war der Tag mein. Ich stillte mein Schlafbedürfnis auf drei Wochen im Voraus und lernte rasch, daß die Anwesenheit von Patienten bei der Visite ein notwendiges Übel ist. Einmal wagte ich doch zu fragen, was ich bezüglich der Wunde beim Herumlaufen beachten müsse. »Herumlaufen sollen Sie gar nicht, bleiben Sie lieber im Bett, bis das abgeheilt ist.« – »Dann verstehe ich nicht, warum ich die Thrombosestrümpfe schon abgeben sollte.« – »Na ja, aufstehen dürfen Sie ja.« Rums. Ich zählte bis zehn.

Ein andermal fragte ich, wie ich bei der Körperpflege mit der Wunde umgehen solle, z.B. beim Duschen. »Halten Sie sich einfach an das, was die Schwestern Ihnen gesagt haben.« (Damit war vermutlich nicht die Rüge gemeint, die ich mir für nächtliches Fernsehen mit angeblich zu laut eingestellten Kopfhörern eingehandelt hatte.) Ich wies darauf hin, daß ich bezüglich meiner Mitarbeit an meiner Genesung noch keinerlei Anweisungen erhalten hatte (wir zählten bereits die 47. Stunde nach der OP). Die anwesende Stationsschwester wurde ob dieser indirekten Beschwerde blaß vor Ärger und tauchte auch prompt zehn Minuten nach der Visite weisungsgemäß wieder bei mir auf. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Natürlich nahm sie mir den Rüffel vom Chef persönlich übel, antwortete demensprechend barsch und unkonkret auf meinen Fragenkatalog. Mich machte nervös, daß sie die Türklinke dabei nicht aus der Hand ließ.

*

Die Operationswunde heilte rascher als erwartet. Natürlich war das kein Grund für eine vorzeitige Entlassung. Schließlich war nur die Hälfte der Stationsbetten belegt. Während meines Freigangs auf dem Krankenhausgelände kreisten meine Gedanken stets um die Erkenntnis, daß Krankenhäuser alles medizinisch Erforderliche tun – um sich gegen Kunstfehlerprozesse abzusichern.

Der Raucherraum eine Etage tiefer war eine Latrine; vor dem Haus gab es keine Bänke. Ich schaffte es dennoch, meinen Zigarettenkonsum wieder auf eine gewissen Regelmäßigkeit hochzuschrauben. Gegen diese Suchtkrankheit fehlte mir definitiv eine Beschäftigungstherapie. Auf die Gutenachtzigarette mußte ich allerdings verzichten, da ab 22:00 die Stationstüren verriegelt wurden. »Damit ich sicher sein kann, daß alle meine Patienten auf Station sind«, erklärte mir die Nachtschwester.

Am Abend vor meiner endgültigen Entlassung konnte ich sie dann doch einmal überreden, mir aufzuschließen. »Aber wiederkommen!« mahnte sie. Ich lächelte devot. »Draußen schlafen hatte ich nicht vor.« Vor dem Gebäude schlenderte ich außer Sichtweite. Dann rannte ich, was ich konnte. In meiner Tasche raschelten sämtliche von mir unterschriebenen Papiere – sie hatten vergessen, sich meinen Verzicht auf sämtliche Rechte aushändigen zu lassen. Eigentlich schade, daß ich mich selbst so gut gepflegt hatte. Ich hätte reich werden können.


Juli 2000, unveröffentlicht