Erkenntnis

In der vermeintlichen Windstille zwitscherten Vögel zwischen leise wedelnden Blättern. Ich saß auf einer weißen Bank und horchte in mich. Mein Herz war bang und still, so sehr ich auch versuchte, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Da setzte sich eine alte Frau neben mich. Ihr linkes Auge war mit einem zerzausten Wattebausch verklebt, und sie nickte beständig, während sie ihren Blick auf einen knorrigen Baumstamm gerichtet hielt. In meiner Ruhe gestört, löste ich mich von den Fragen an mein Herz und blickte ebenfalls den Baum an. So saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander.

»Schon merkwürdig, nicht?« sprach sie plötzlich leise. »Wie bitte?« fragte ich zurück, wie aus einem Schlaf erwachend. »Der Baum«, entgegnete sie. »Er hat ebensoviele Falten wie ich. Hinter seiner Rinde liegen die Jahre... wohl Hunderte von Liebenden haben ihre Schwüre in ihre Ritzen geflüstert, wohl unzählige Väter haben sich hinter dem Stamm zum Scherze vor den Augen ihrer Kinder verborgen. Wer vermag zu sagen, wieviel tausend Tränen diese Wurzeln begossen haben? So viele Jahre hat sie gesehen. So viele Falten hat ihr Stamm.«

Sie hatte langsam gesprochen und so leise, daß ich ihr meinen Kopf zuneigen mußte, um sie zu verstehen. »Ja«, sagte ich zögernd. Ich hatte keine blasse Ahnung, worauf sie hinauswollte. »Die Bäume werden mit dem Alter immer größer, und jedes Frühjahr sind sie aufs neue jung. So anders als wir und doch so ähnlich. Es ist doch wirklich merkwürdig.« Allmählich wuchs in mir eine Ahnung vom Sinn ihrer Worte. Sie sprach weiter. »Von den Bäumen müssen wir lernen. Sie laufen nicht fort. Sie bleiben und schauen. Und wenn ein Mensch eine Mauer vor einen Baum setzt, so müht der Baum sich, diese zu überragen oder reckt seine Äste um sie herum. Und manchmal wächst so ein Baum einfach hindurch. Ja, sie sind geduldig, diese Bäume.« Ich entgegnete nichts. Ihre Bilder drangen in meinen Kopf und füllten sich mit Leben. Wind strich durch die Wipfel, und mein Herz wurde leichter.

Mühsam stand die alte Frau auf und blickte mich zum erstenmal an. Ihr Auge strahlte jung und klar. »Komm, hilf mir«, forderte sie mich auf, indem sie mir ihren angewinkelten Arm entgegenhielt. Wie im Traum erhob ich mich und nahm ihren Arm. »Du siehst, ich bin halb blind. Ich bin unsicher, wenn ich laufe, denn ich kann die Länge des Weges nicht einschätzen. Führe mich zu dem Baum; ich möchte seine Kraft spüren.« Langsam, Schritt für Schritt, geleitete ich sie zu dem knorrigen Stamm und führte ihre Hand an die Rinde, worauf ich meine Hand neben die ihre legte und mein Gesicht in die Falten schmiegte, als seien sie Mutters Schoß.

Der Wind trug nun fernen Glockenklang an mein Ohr, mein Herz schlug heftig. Ich sog den Duft des Holzes in mich, den herben Duft langer Jahre. »Wer bist du?« murmelte ich in einen Spalt der Rinde. »Aber mein liebes Kind!« lachte die Alte. »Das weißt du doch. Hast du nicht immerfort nach mir gerufen?« Erstaunt wandte ich meinen Kopf in ihre Richtung. »Bist du die Liebe?«

Doch die Alte war spurlos verschwunden.

–1999–