Die Ferne

Drüben, am Ende der Welt, stand ein junger Kirschbaum in voller Blüte. Weit verströmte er seinen Duft und sandte mit demselben Wind spärliche zarte Blütenblätter ins Ungewisse. Währenddessen saß hier auf diesem Zaun ein junger Vogel, gerade erst flügge, und träumte von Abenteuer und Zukunft. Da es keine Zufälle gibt, trug ihm der Westwind just in diesem Moment ein betörendes Aroma in die Nase, das ihn, derart überrascht, gleicht zweimal niesen machte. Und schon bereute unser Vögelchen, daß es nicht geistesgegenwärtig genug gewesen war, diesen Duft in sich zu bewahren, sich berauschen zu lassen. Doch milde wehte ihm eine zweite Brise dieses eine schneeweißschmelzende Blatt vor die Füße. Ganz vorsichtig pickte unser Freund, von einer leisen Ahnung beseelt, den Boten seiner Zukunft auf und verbarg ihn behutsam in seinen Daunen.

*

Junge Vögel wachsen rasch heran zu tatendurstigen Weltreisenden. Und so machte sich eines Tages einer auf, den Duft des Glücks einzufangen. Viele Tage und Nächte flog er gegen den Westwind, verdrängte Hunger und Durst, trotzte ungeduldig dem Regen, ließ sich von keiner Sonnenstunde ermüden, bis er in ein Gewitter geriet und in einem hohlen Baum Zuflucht suchte. Seine Neugier und seine Hoffnung hingen zu diesem Zeitpunkt bereits aufgeweicht von den Flügelspitzen, und als er in seinem Gefieder nach dem Blütenblatt stöberte, konnte er es nicht gleich finden. Müde steckte er den Kopf unter einen Flügel, um sich in einen tränenlosen Schlummer fallen zu lassen.

Da vernahm er eine Stimme hinter seinem Rücken. Zu Tode erschrocken, doch ermattet sich seinem Schicksal überlassend blieb er, den Kopf verborgen, sitzen. Aber es war eine milde Stimme, die zu ihm sprach, sanft und tief wie seine eigene Seele:
»Gib nicht so schnell auf, mein Freund, was immer es auch sei. Jede weite Reise lohnt sich; selbst wenn du nicht an dein Ziel gelangst, so bist du doch an ihr gewachsen.«
Langsam drehte er sich um und erblickte im Dunkel eine graue Eule. Sie lächelte ihn unergründlich an, und es wollte ihm scheinen, sie wisse genau, wohin es ihn zog.
»Ach, weise Freundin, ich war jung und ließ mich zu schnell begeistern. Nun jage ich schon lange einer blassen Ahnung hinterher. Weiß ich doch schon gar nicht mehr, was dieser Duft in sich trug, daß ich so von Sinnen war.«
»Dann fliege weiter und ergründe sein Geheimnis. Ein Leben ohne Wagnis ist ein vergeudetes Leben. Erkenntnis mag süß oder bitter schmecken, doch immer wird sie deinen Hunger stillen.«
Der Vogel verstand diese Worte nicht ganz, doch er spürte die ewige Wahrheit in ihnen.
»Aber wie finde ich meinen Weg, wenn ich doch nur einen Traum suche?«
»Der Traum selbst wird dir die Zeichen legen. Lerne du sie deuten.«
Und indem die Eule diese letzten Worte sprach, spazierte sie aus der Baumhöhle und flatterte in die Dämmerung eines aufklarenden, frischgewaschenen Himmels. Durch ihren Flügelschlag löste sich das Blütenblatt aus dem Gefieder des Vogels und verströmte wieder diesen unbeschreiblichen Duft. Der Duft erzählte von Freiheit und Weite, zugleich aber auch von Liebe und Heimat. Nun drängte es unseren Freund, sofort weiterzureisen, sein Ziel zu suchen – und sei es nur, um Gewißheit über das zu bekommen, was ihn so unruhig machte.

Der Sommer ging schon zur Neige, die Tage wurden kürzer, es dämmerte eher. Obwohl es sein erster Sommer war, wußte der Vogel, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Wie um dieses zu bestätigen, barg eine leichte Brise das Versprechen in sich, daß er seinem Ziel nahe war, und er verstand. Unverzüglich schwang er sich in den Himmel, jubelnd über seine wiedergefundene Hoffnung. Und siehe da: Noch in derselben Nacht, als er sich endlich erschöpft auf einem Baum zum Schlafen niederließ, durchzuckte ihn als ein letzter Gedanke die Gewißheit, daß er angekommen war.

Am nächsten Morgen suchte er vergebens die weißen Blüten, die er hier erwartet hatte. Doch schmerzte ihn ihr Fehlen nicht, als er erkannte, daß der Baum schwer beladen war mit köstlichen Früchten. Erregt hüpfte er von Ast zu Ast, schnupperte hier, pickte da, naschte dort... bis er schließlich die Ruhe fand, an einer prallen dunkelroten Kirsche den Hunger und Durst vieler Wochen zu stillen. Geschickt nagte er das saftige Fruchtfleisch ab, bis er den feuchtschimmernden Kern bloßgelegt hatte, um ihn versonnen zu betrachten. All die Ungeduld, all das Sehnen, die Widrigkeiten und die Anstrengung waren bei diesem Anblick vergessen. Hierher hatte es ihn gezogen, und nun verstand er, warum. Er verstand alles.

*

Er verstand auch, daß er nicht bleiben konnte. Vollkommenes Glück darf nicht immer greifbar sein. Wenn er sich an diesen Baum gewöhnte, würde er vielleicht kein Ziel mehr haben. Und so trat er nach einiger Zeit die beschwerliche Reise zurück an. Er wußte, wohin er flog; er wußte auch, daß er dort bei diesem Zaun nicht glücklich sein würde. Doch er war's zufrieden bei dem Gedanken, daß er noch im selben Jahr wieder eine Reise antreten würde.

–1998–