Das Rad

Einer rollte ein Rad zum Marktflecken. Riesig war es und mit allerlei Ideen beflochten. Die Speichen waren aus Gold, Blech und schwarzem Holz, doch ließ sich kaum ausmachen, aus welchem Material sie jeweils waren, da das Rad ständig in Bewegung war. Es wurde weder langsam noch schnell getrieben, gerade so, daß es oft schien, als bewege es sich gegen die Richtung rollend. Das zugleich glatte und rauhe Holz war in endloses Schnitzwerk verwandelt, umgeben von einer Schicht Erde, die von allen Kontinenten stammen mochte. Und doch konnte man Figuren ausmachen. Gräßliche, leidvolle Fratzen waren zu erkennen, nächst glücklich lachenden, Kindern und Alten, Frauen und Männern. Auch allerlei Symbolisches war zwischen diese Gesichter eingepaßt: ein Apfel, eine Esche, eine Mühle – sogar eine ganze Schmiede offenbarte sich dem geübten Betrachter. Aber da das Rad immerfort gerollt wurde, hätte man lange im gleichen Schritt nebenher wandern müssen, um es als Ganzes durch die Details erkennen zu können. So war wohl nur der mit dem Wesen seines Rades vertraut, der es nun schon seit vielen Jahren zu Markte trieb, wo er sich in einer unscheinbaren Ecke niederließ und das bunte Treiben betrachtete.

Die Tuchhändler wedelten mit robusten und kostbaren Stoffen die Neugierigen zu sich heran, um sie das Leinen befühlen zu lassen. Die Scherenschleifer ließen ihre Schleifsteine wirbeln, der Geruch von allerlei Vieh mischte sich mit dem Duft der vornehmen Parfümhändler, der Duft von allerlei Speisen mit dem der Wagen von Wunderheilern. Mitten hinein in das laute Gewühl mischten sich die Melodien der Bänkelsänger, das Schellenrasseln der Spielmannsleute und die rauhe Stimme der Kartenlegerin. In einem beständigen Fluß schoben sich die Marktbesucher an der ruhigen Ecke des Radbesitzers vorbei. Viele von ihnen hatten sich für das Rad interessiert. Wohl jeder Marktbesucher hatte schon einen bewundernden Blick darauf geworfen, so manche Seele war in inniger Betrachtung verweilt, einige hatten dem Mann Fragen gestellt und das Material befühlt, wenige nur hatten die Schnitzereien erkannt. Doch der Besitzer des Rades war kein Marktschreier. Sein Wesen war wie das seines Kunstwerks in ruhiger, doch stetiger Bewegung begriffen. Er ließ seine Gedanken treiben, während er dort am Markt saß, nahm die Vorübereilenden kaum wahr, beantwortete geduldig die an ihn gerichteten Fragen, doch hielt er dabei weder die Neugierigen noch sich selbst auf.

Nur manchmal, vielleicht einmal im Jahr, hielt er inne und nahm die Fragenden wahr. Ein Kind vielleicht oder ein alter Mensch hatte dann um eine Auskunft gebeten, die zu geben er nicht vermochte: Woher das Rad denn käme und warum es da sei? An solchen Tagen sprach er wirklich mit diesen Menschen, und es war ihm, als ruhe das Rad. Später dachte er jedesmal über eine Idee nach, eine Schnitzerei, die er noch hatte hinzufügen wollen, dann jedoch immer wieder aufgeschoben hatte, bis schließlich kein Platz mehr dafür gewesen war. Er hatte den Gedanken nicht gemocht, daß ein flüchtiger Marktbesucher, einer von jenen, die nur nach dem Wert des Materials fragten, diese Schnitzerei entdecken könne. Solche Menschen hätte sie verstören können, und für solche Wirkungen war das Rad nicht geschaffen worden.

Am Ende eines jeden Markttages stand der alte Mann langsam auf und trieb das Rad zurück zu seinem Haus. Im Verlassen des Marktfleckens nickte er den fahrenden Musikern und Spielmannsleuten freundlich zu. Sie alle trugen einen Ring an einer Kette um den Hals, manche einen aus Ebenholz, viele einen aus Zinn, aber doch auch viele einen aus Gold.

–1998–