Zeit um Zeit In einem steinernen Baum, dessen Stamm so ausladend ist wie ein Berg, auf dessen Krone das ganze Himmelsgewölbe ruht, wohnt die Hüterin der Zeit. Zu ihr begab ich mich, um ihr eine große Bitte vorzutragen. Sie ist eine gütige Frau, die Fragende und Suchende stets gerne empfängt, gleichwohl sie mir etwas traurig zu sein schien, daß so wenige Menschen die Muße finden, sie zu besuchen. Mit einem warmen Lächeln empfing sie mich und hörte meinem Anliegen aufmerksam zu. Könntest du nicht den Lauf der Zeit etwas beschleunigen? Er hat Dinge zu tun, die uns keinen Platz für die Liebe lassen, und das Warten zehrt so an mir. Wenn die Dinge nur schneller erledigt werden könnten, indem die Zeit rascher voranschritte, dann würde die Sonne bald heller scheinen, und das wäre doch gut für alle Menschen. Dieses Argument war mein Trumpf. Ich wußte ja selbst, wie eigensinnig mein Herzenswunsch war, doch wollte ich nicht gar so selbstsüchtig erscheinen vor diesem gütigen Wesen. Die Hüterin der Zeit lächelte verständnisvoll. Da hat meine Freundin, die Weberin der Gefühle ja wieder etwas angerichtet. Ist er so fern von dir? Nein, er ist mir nah, sprach ich, doch um ihn zu berühren, muß ich weit reisen. Du weißt, wer ich bin? Warum bittest du nicht den Meister Aller Wege um Hilfe? Weil auch dann noch das Problem der Zeit ungelöst wäre. Wir haben zuwenig Zeit füreinander in diesen Tagen. Ich ließ den Mut sinken. Es sah nicht so aus, als könne mir geholfen werden. Doch da lächelte die Hüterin noch gütiger als zuvor und sprach: Also gut. Ich werde dir helfen, denn es freut mich immer, wenn die Menschen Zeit für die Liebe haben wollen. Viel zu oft, leider, höre ich sie in ihren Träumen nach mehr Zeit für die Arbeit rufen. Dieser Patron der Gesichtslosen ist ein verbitterter Geselle, treibt immerzu die Menschen um, hetzt sie durch ihr Leben, nur weil er selbst immerzu rastlos ist. Allzu viele Menschen erkennen erst im Letzten Einschlafen, daß sie zwar viel Arbeit geschafft haben, aber keinen Lohn außer dem, der ihnen am Ende nicht bleibt. Du möchtest also Zeit für dich und deinen Liebsten... Sie versank für eine Weile in Nachdenklichkeit. Ich sah, wie ihre Augen sich nach innen richteten. Ganz allmählich wich ihr weiches Lächeln einem verschmitzten, heiteren Ausdruck. Sie sah mich prüfend an. Bist du bereit, eine Probe zu bestehen? Aber natürlich, erwiderte ich, jede Probe, wenn ich nur bald unbeschwert bei meinem Liebsten sein kann. Mir schien, als kicherte sie insgeheim wie über eine Jungmädchenfreude. Sieh, in meinem Garten tummeln sich unzählige Kaninchen. Sie sind tückisch, schwer zu fassen. Sie zerfressen mir die sorgsam angelegten Beete. Ständig fällt ihnen etwas Neues ein, um mich zu ärgern. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du wenigstens einige von ihnen einfangen könntest. In einer Ecke des Gartens ist ein Gehege, in dem sich ihre Vorfahren einst recht wohl zu fühlen schienen. Ich möchte ja nicht, daß ihnen ein Leid geschieht, denn auch diese Vielfraße muß es wohl geben. Ich sähe sie nur gern gebändigt. Je mehr du in dieses Gehege bringen kannst, desto besser. Unter einer Probe hatte ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt. Ich hatte erwartet, daß sie mir schwere Fragen stellen würde oder meinen Mut testen wollte. Diese Aufgabe schien mir mühselig, aber lösbar. Ich nickte mein Einverständnis. Wo ist der Garten? Nun, den wirst du finden. Mach dich nur auf den Weg. Mit diesen Worten lächelte sie mir noch einmal aufmunternd zu und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit wieder der komplizierten Strickerei, über der sie gesessen hatte. als ich zu ihr gekommen war. Den Garten zu finden, war mir nun doch eine Probe, denn in dieser weitläufigen Burg einen anderen Weg zu finden als den zur Hüterin der Zeit, war mir nie in den Sinn gekommen. Den Weg zu ihr kannte ich; jeder andere Teil der Burg hingegen war mir gänzlich unbekannt, und so sehr ich meine Erinnerung auch bemühte einen Garten hatte ich hier noch nie gesehen. So ging ich denn los, nahm aufs Geratewohl eine der schweren Holztüren am anderen Ende der Halle. Schwer knarzend gab sie meinem Druck nach. Erschrocken warf ich einen Blick über meine Schulter, ob ich die Versunkene hinter mir womöglich aufgeschreckt hatte, doch sie schien um sich herum nichts mehr wahrzunehmen. So leise wie möglich was beileibe nicht geräuschlos sein konnte schob ich die Tür von außen an ihren Platz zurück. Ich stand in einem dunklen Gang, von dem offenbar andere dunkle Gänge abgingen. Außer dem schwachen Schimmer unbestimmter Herkunft, der die ganze Burg in milder Dämmerung hielt, nach ich kein weiteres Licht wahr. Kein Tageslicht. Sie hatte mit solcher Überzeugung gesagt, daß ich den Garten finden werde, daß ich beschloß, mich fürderhin auf mein Gespür zu verlassen. Wahllos entschied ich mich für einen der Gänge, dann für einen weiteren, öffnete hier und da schwere Türen oder schob spinnwebfeine Vorhänge zur Seite, fand aber nur kleine dämmrige Räume ohne Fenster. Keinen Garten. Nachdem ich eine Weile umhergeirrt war, hatte ich einige wundersame Dinge in schummrigen Kammern entdeckt, Gemälde aus verblichenen Zeiten, eine Sammlung kunstvoller Sanduhren, merkwürdige Maschinen, deren Sinn sich mir durch kurze Betrachtung nicht erschließen wollte... doch immer noch keinen Hinweis auf einen Garten. Enttäuscht lehnte ich mich an eine Wand und versank ins Grübeln. Diese Suche war Teil der Probe, soviel war sicher. Gab es denn überhaupt einen Garten? Andererseits hatte sich ihre Stirn sorgenvoll in Falten gelegt, als sie von den Kaninchen gesprochen hatte. Sie schienen eine wirkliche Sorge der liebenswürdigen, geduldigen Frau zu sein. Irgendwo in dieser Burg mußte es diesen Garten geben. Auch konnte er nicht am Rande liegen, denn der Sitz der Hüterin der Zeit war umgeben von einem dichten Wald. welcher zuviel Licht schluckte, um angelegten Beeten auch nur einen Sonnenkreis lang Wachstum zu gewähren. Es mußte also ein Ort im Innersten der Burg sein, die mit ihrer Größe den Wald durchbrach. Vermutlich war die Burg ringförmig. Dieser steinerne Riesenbaum, in dem ich mich befand, mußte ein hohler Baum sein! Aufgeregt spürte ich, daß ich der Lösung der Aufgabe nahe war. Ich befand mich tief im Innern der Burg; die Wände waren mehrere Meter dick. Müßte die Außenwände nicht die stärksten sein? Ich sah mich aufmerksam um und versuchte zu ergründen, in welche Richtung die Wände mächtiger wurden, fand auch tatsächlich Hinweise und ging in eine Richtung weiter, die im dunkelsten Dämmer lag. Bald hatte ich das Gefühl, mich weitertasten zu müssen. Meine Augen vermochten kaum noch Konturen zu unterscheiden. Dann erfühlten meine Hände eine Tür, und indem ich die Finger einen Augenblick auf dem Holz ruhen ließ, meinte ich einen zarten Luftzug zu fühlen und riß noch im selben Moment erleichtert den hölzernen Riegel zur Seite. Sehr störrisch und erst nach heftigem Ziehen gab die Tür zentimeterweise nach. Ich blickte in einen Gang, an dessen Ende ich Tageslicht erahnte. Endlich! Ich schalt mich dafür, nicht eher auf einen Luftzug geachtet zu haben oder auf das Nachlassen des Ewigen Lichtscheins, denn ich hatte den starken Verdacht, an der Tür auf meinem Irrweg bereits einmal vorbeigekommen zu sein. Am Ende des Ganges angekommen, blickte ich in einen üppigen Garten mit Blüten, die die Farben der Welt in sich trugen. Einige wuchsen meterhoch, andere wanden sich in mythischen Ornamenten um niedrige Mauern und zarte Bäumchen. Es schien mir die vollkommene Harmonie von Wildwuchs und ordnender Hand zu sein. Die Hüterin der Zeit hatte in weiser Voraussicht den Pflanzen ihren Platz und ihre Wege zugewiesen, wo sie hernach ungehindert wachsen konnten. Der plötzliche Wunsch, meinem Liebsten diesen Gerten zeigen zu können, und die damit wieder aufkeimende Sehnsucht drängten mich nun heftig, meinen Auftrag auszuführen. Ich hatte eine ganze Zeitlang nur staunend dagestanden, bis ich endlich die Bewegungen am Boden wahrnahm. ein genauerer Blick entlang der niedrigeren Gewächse bestätigte mir, daß die putzigen pelzigen Wesen tatsächlich beträchtlichen Schaden angerichtet hatten; es waren ihrer offenbar sehr viele. Zuerst durchstrich ich den Garten auf der Suche nach dem Gehege, fand es auch bald und stellte beruhigt fest, daß die Kaninchen dort keinen Mangel würden leiden müssen. Weitläufig abgesteckt war diese Wiese, üppig wucherte der Löwenzahn, und es gab auch farbenprächtige Wildrosenbüsche, unter die sie sich verkriechen konnten. Nun war es also an mir, sie einzufangen. Ich beugte mich über den Zaun und pflückte eine gute Handvoll Löwenzahnblätter. Einen Versuch war es wert, obwohl die Kaninchen offenbar im Schlaraffenland lebten und sicherlich nicht hungrig zu meinem Extrafutter gelaufen kommen würden. Dennoch setzte ich mich mitten in den Garten, auf den Boden, die Blätter in der Hand, um die Kaninchen zu beobachten. Vielleicht würde mir dabei eine bessere Idee kommen. Es wäre auf jeden Fall müßig, den Tieren hinterherzurennen. Kaninchen kann ich nicht mit bloßen Händen jagen, sie sind zu gewitzt, schlagen Haken oder schlüpfen durch Hecken. Während ich so nachdachte und überlegte, was ich mit meinem Wissen über diese Tiere anfangen konnte, kam eins von ihnen neugierig herangehoppelt und schnupperte an meinem Löwenzahn, wenig argwöhnisch, offenbar, da ich ganz still dagesessen hatte. Ich ließ es knabbern und beugte mich dabei vorsichtig etwas hinunter, jedoch nicht in der Absicht, es gleich zu packen. Auf die Bewegung hin hielt es kurz inne, beäugte mich mißtrauisch, mümmelte dann aber eifrig weiter. Eine kleine Ewigkeit verging, bis dieses eine Kaninchen soviel Zutrauen zu mir gefaßt hatte, daß ich es streicheln konnte, eine weitere, bis ich es behutsam auf den Arm nehmen konnte und satt und träge, wie es war, ins Gehege setzen. Mein erster Erfolg! Doch wie lange hatte es gedauert! Noch ein weiteres Tier sollte ich auf diese Weise einfangen, doch während des Stillsitzens und Wartens reifte ein Plan in mir. Ich wollte mir die Eigenart der kleinen Hakenschlager zunutze machen und sie doch jagen. Ich rechnete mir trotz ihrer Schnelligkeit mit meiner Idee einen größeren Erfolg in kürzerer Zeit aus. In dem Gehege hatte ich in einem kleinen Holzverschlag ein Schmetterlingsnetz erblickt. Das holte ich mir heraus, als ich das zweite Kaninchen dort absetzte. Nun ging ich direkt auf ein einzelnes Tier zu, daß mitten in einem Beet hockte und aufschreckte, als ich auf es zukam. Das Netz verbarg ich mit einer Hand hinter meinem Rücken und tat ein paar rasche Schritte nach vorne. Wie erwartet, jagte das Kaninchen in die entgegengesetzte Richtung los, um nach ein paar Metern, die ich ihm auf den Fersen blieb, einen Haken zu schlagen und knapp neben meinem Fuß vorbeizuwischen. Wir wiederholten dieses Spiel ein paarmal, bis ich den Rhythmus zwischen Davonrennen und Hakenschlagen erkannt hatte. Kurz vor seinem nächsten Zickzack stieß ich den Ring des Schmetterlingsnetzes nah bei meinem Fuß zu Boden und hatte mich nicht verschätzt: Das Tier ging mir in die Falle. Nun ging es rasch voran. Immer schneller fing ich ein Kaninchen nach dem anderen, und bald wimmelte das Gehege. Sie schienen's aber zufrieden zu sein, denn wohin ich auch blickte, hoppelten sie ohne Hast von einem Kraut zum nächsten und schlugen sich nach alter Gewohnheit die Mägen voll. Ich will gar nicht behaupten, daß ich alle erwischt hätte, doch die im Garten verbliebenen Tiere hatten sich irgendwo verkrochen. Als die Dämmerung einsetzte, konnte ich keines von ihnen mehr erblicken. Ich war's zufrieden, denn mein Auftrag war erfüllt. Ich ließ meinen Blick aus dem gewölbten Gang heraus ein letztes Mal durch den Garten schweifen, und wieder erwachte der Wunsch in mir, diesen Blick mit meinem Liebsten teilen zu können. Der Gedanke an ihn beflügelte mich, auf dem schnellsten Weg zur Hüterin der Zeit zurückzukehren, um ihr meinen Erfolg zu melden. Sobald dann mein Liebster und ich Zeit füreinander haben würden, wollte ich ihn hierher bringen, damit wir uns beide bedanken konnte. Noch während mir mit Schaudern einfiel, daß ich erst den Weg zurückfinden mußte zur Hüterin der Zeit, kam diese mir auch schon lächelnd entgegen. Nun, du bis fertig, wie ich sehen? Liebe, gütige Frau, erwiderte ich, nicht alle habe ich einfangen können, doch ich mußte aufhören, da es dämmert. Aber ich denke, ich kann zufrieden sein. Gemeinsam durchquerten wir den Garten, zufrieden erblickte sie die vielen Tiere im Gehege und drückte meine Hand. Mein Kind, du hast mehr erreicht, als ich dir zugetraut hätte. Nun will ich dir erklären, was es mit dieser Probe auf sich hat: Diese kleinen Störenfriede sind die ungenutzten Tage, die du eigentlich hattest ausfüllen wollen. Nicht die Tage, an denen du deine Muße zu nutzen weißt, sondern jene, an denen du dir so viel vorgenommen hast und vor lauter Rastlosigkeit am Ende nichts übrigbehieltest als Unzufriedenheit. Es sind die ungeschriebenen Briefe, die ungelesenen Bücher, die Spaziergänge und auch deine Pflichten. Du hast mir gezeigt, daß du sehr wohl in der Lage bist, sie einzufangen. Mit diesen Worten öffnete sie zu meinem großen Erschrecken das Gatter des Geheges. Unzählige Kaninchen hoppelten gleichmütig in den Garten zurück. Es muß sie geben, weißt du, lächelte sie mich entschuldigend an. Aber du hast ja nun gelernt, wie du sie zu fassen bekommst. Erst wollte ich meiner Enttäuschung Luft machen, doch dann hielt ich einen Moment inne und erkannte, daß sie Recht hatte. Ich nehme an, daß du auch nicht den Lauf der Zeit beschleunigen wirst? fragte ich schließlich. Ganz recht. Das ist etwas, das die Zeit nicht mit sich machen läßt. Sieh, ich bin nur ihre Hüterin. Eine Gebieterin hat sie nicht. Ich nickte traurig, denn es war mir just in diesem Augenblick auch in den Sinn gekommen. Warum dann die Probe? Doch auch diese Frage hatte ich nicht mehr zu stellen brauchen, denn ihre Antwort fand ihr Echo bereits in meinem Herzen vor: Mein liebes Kind, hättest du es denn sonst erkannt? Du hast etwas Wichtiges gelernt. Und nun geh heim und vergiß es nicht. Sie legte ihre Hand auf meine Augen. Vergiß es nicht! hallten ihre Worte in mir nach, und als ich die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Ich stand allein am Waldrand. Nein, vergessen würde ich es nicht. Die untergehende Sonne schien mir heller als je zuvor, als ich mich auf den Rückweg machte. Zu Hause angekommen, stellte ich zu meiner größten Freude fest, daß mein Wunsch sich dennoch erfüllt hatte. Viel Zeit war vergangen während meiner Reise, und sie war wie im Fluge vergangen. Als ich meine Tür öffnete, wartete schon mein Liebster auf mich. 1999 |