Der Jonas

Das Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor, wie aus einem Gemälde, das ich in meiner Jugend oft betrachtet haben mochte. Die Gewißheit dieses Gesichts, mich wiedererkannt zu haben, verunsicherte mich. Meine gute Erziehung zwang mich, in Windeseile Stationen meines Lebens auf ein Aha hin abzuklopfen. Doch es rieselte nur Damalsstaub heraus. »Anna«, begann er, und es versetzte mir den altvertrauten Stich meines schlechten Personengedächtnisses (Sogar meinen Namen kennt er noch!) »Erkennst du mich nicht? Jonas. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.« Genau: Jonas! Ich unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen. Jetzt hatte ich die Bilder wieder vor Augen. Oberstufe. Chemiekurs. Wir hatten zusammen Textilfarbe gebraut, die dann den Stoff in Papier verwandelt hatte, und wir hatten uns lachend die Kleider vom Leib gerissen, von patentiertem Reichtum aus der Rockmusikbranche träumend. Der Jonas.

Mein Lächeln war nun echt. »Entschuldige bitte. So lange her. Deine Haare waren damals sehr lang. Kurz steht dir besser. Macht das das Alter?« Er lachte nicht. Überhörte die Anspielung auf viele vergangene Jahre. Fragte statt dessen: »Und was machst du jetzt so?« – »Ich reise meistens der Kelly Family hinterher und versuche, ihnen die Kleider vom Leib zu reißen. Aber die verwenden den falschen Stoff.« Sein linkes Lid zuckte bei der Erinnerung, doch er selbst hielt es wohl für ein nervöses Zucken angesichts eines Menschen, der womöglich in ambulanter Therapie ist.

»Tja, ich arbeite als Steuerfachgehilfe. Leider ist momentan viel zu tun; wir können alle keinen Urlaub nehmen. Und das bei dem Wetter.« Er suchte den Himmel mißtrauisch nach Wolken ab. »Schön, daß es doch noch Sommer geworden ist, nicht wahr?« Ich spüre leisen Ärger in mir aufwallen. »Hör mal, Jonas, warum hast du mich eigentlich angesprochen? Um mit mir über das Wetter zu reden? Was ist mit all den Jahren, den vielen Erfahrungen, dem Erwachsenwerden? Das Wetter interessiert mich nicht. Mein Leben ist zu kurz, um mich mit Belanglosigkeiten zu befassen. Erzähl mir von deinen Träumen und warum du sie nicht lebst! Welche interessanten Gedanken hast du zum Beispiel in den letzten Wochen gehabt?«

Mein Redeschwall hat ihn überrollt wie die vielzitierte Dampfwalze. Er verliert die Fassung. Jetzt entscheidet sich, ob er die Flucht oder die Chance ergreift. Er steht einfach da und blickt mich mit offenen Augen an. Plötzlich wird mir klar, daß sie von einem feuchten Film überzogen sind, der sich allmählich zu Tränen versammeln wird. »Anna, du bist unfair. Warum hast du mir keine Zeit gelassen? Hätte ich sagen sollen ’Hallo Anna, kennst du mich noch? Sag mir nicht, wie es dir geht, denn ich bin nicht mehr der lustige Jonas von damals; ich bin der stille Jonas von heute, der mit dem Krebs kämpft.’ War dir wirklich danach, das sofort zu hören?«

Jetzt ringe ich um Fassung angesichts der Wunde, die ich geöffnet habe. Der Redeschwall hat ihn. »Meine Gedanken über das Leben willst du wissen? Ich möchte nicht mehr kämpfen. Ich möchte einfach den Rest meines Lebens in Griechenland verbringen. Es wäre kürzer, aber intensiver. Statt dessen hocke ich in diesem langweiligen Büro, Tag für Tag. Aber wovon sollte ich leben, wenn ich alles hinwerfen würde?« Auch ein Lebensabend am Mittag kostet Geld. Er tut mir leid. Nein, es tut mir leid. Er redet weiter: »So bist du immer gewesen, Anna. Auch wenn du es vielleicht nicht gemerkt hast: Schon damals hatte man bei dir keine Chance. Man hat Belangloses geredet, doch bevor ich beginnen konnte, darüber zu reden, was mich bewegt, hattest du das Interesse verloren und neue Gespräche gesucht. Und so hast du an der Oberfläche gespielt und alle anderen für oberflächlich gehalten. Wir hätten Freunde werden können, Anna.«

Ich spüre das Blut durch meine Adern rauschen, es reißt mich in die Vergangenheit, und endlich, endlich! sehe ich mich nicht mehr von innen heraus. Ich stehe neben der Schülerin von einst und frage sie, womit sie ihre Zeit verbringt. Sie blickt mich verständnislos an. Natürlich, denn sie ist viel unterwegs, hat ständig neue Ideen und Pläne. Doch sie nimmt sich nie die Zeit, das langsame Wachsen eines Sprößlings zu beobachten oder das Entfalten einer Blüte im taufrischen Morgen. Dann zieht mich ein leiser Windhauch sanft zurück in die Gegenwart. Ich nehme Jonas in den Arm. Nicht den schnellen Jonas von damals, sondern den tiefen Jonas von heute. Und ich lade ihn ein in ein griechisches Restaurant. In all den Jahren habe ich vielleicht nur das Zuhören gelernt.

–1998–