Schwundstufe

Eines Morgens wachte ich auf, und mir fehlte ein Bein. Es war einfach nicht mehr da, über Nacht verschwunden. Erst da merkte ich, wie sehr einem so ein Bein fehlen kann, und obwohl ich nie sonderlich sportlich gewesen war, bekam ich plötzlich unbändige Lust zu tanzen, zu rennen und auf Berge zu klettern. Nach dem ersten Schreck, der Verzweiflung und Resignation lernte ich dann aber bald, auch ohne dieses fehlende Bein zurecht zu kommen. Ich gewöhnte mich schnell an die Prothese und an mein verändertes Leben. Schließlich gab es sogar Momente, in denen es mir so vorkam, als sei es nie anders gewesen.

Dann kam der Morgen, an dem ich feststellen mußte, daß nun auch mein zweites Bein verschwunden war. Ich lag im Bett, starrte unter die Decke und konnte es nicht fassen. Was nützte mir nun noch die Prothese? Jetzt war ich ein Krüppel. Und obwohl ich es nie sonderlich genossen hatte, vermißte ich die kurzen Spaziergänge und das Autofahren. Erstaunlicherweise fand ich mich viel schneller als beim ersten Mal mit dem Verlust dieses Beines ab. Ich lernte zügig, mit dem Rollstuhl umzugehen, erwies mich sogar als einigermaßen geschickt damit. Auch meine Wohnung war schnell umgerüstet, so daß man schon nach kurzer Zeit den Eindruck gewinnen konnte, ich wäre gar nicht erst mit Beinen auf die Welt gekommen.

So hatte ich eine Weile friedlich dahingelebt, als wieder so ein Tag anbrach. Es war der linke Arm, den ich nicht mehr finden konnte. Obwohl es mir immer zuwider gewesen war, bekam ich just an diesem Morgen Lust, Gitarre spielen zu lernen oder Stricken. Ich brach zusammen. Es dauerte einige Zeit, bis ich diesen weiteren Schicksalsschlag verwand. Die Umstellung war diesmal nicht so leicht, doch ich meisterte es. Mit dem Kunststoffarm lernte ich bald, das zu stützen, was ich mit meinem verbliebenen Arm schneiden, öffnen oder umblättern wollte. Es kann wirklich niemand behaupten, ich sei nicht hart im Nehmen. Ich hatte wirklich allen Grund zu verzweifeln, doch ich habe mich immer wieder zusammengerissen.

Als mir zuletzt eines Morgens auch der rechte Arm fehlte, blieb ich erstaunlich gelassen. Mir war klar: Auch diese Krise würde ich meistern. Und das tat ich auch, denn ich lernte endlich – leider mußte es erst so weit mit mir kommen – meinen Kopf effizient einzusetzen. Manchmal allerdings beschleicht mich diese entsetzliche Angst, ich könne eines Morgens auch noch den Verstand verlieren.

–1998–