Vergessen

Leise knistern die Schaumbläschen, sonst ist alles still. Sie versucht, ganz still zu liegen und flach zu atmen, als wäre sie gar nicht da. Zuerst hatte sie sich in die leere Badewanne gelegt, die glatte, kalte Oberfläche gespürt und sich gefragt, wie lange es dauern würde, bis ihr Körper vollständig verwest wäre und ob ihre Knochen wohl aussähen wie Emaille, wenn man sie dann mit Badreiniger polierte.

Als dieser Gedanke sich verhakte und im Kreis lief, hatte sie das kalte Wasser aufgedreht. Erst hatte sie überhaupt nichts gespürt, nur zugesehen, wie der Wasserspiegel langsam ihre Oberschenkel emporkroch. Langsam, heimtückisch. Sie lag da und konnte sich nicht wehren, vergaß die Hand zu heben, vergaß daß sie den Hahn abdrehen konnte. Dann, ganz allmählich, war die Kälte in sie eingedrungen und hatte sie wieder zu Bewußtsein gebracht. Bilder kehrten zurück, drangen durch die geschlossenen Lider und bohrten Löcher in ihre Apathie. Feuchtes Laub. Schatten. Gleichgültiger Mond. Geräusche hämmerten auf ihr Trommelfell – doch bestimmt, sie waren real. Keuchen. Ein Auto. Flüche.

Mit zwei plötzlichen Handbewegungen, die nicht bewußt gesteuert waren und ihr auch nicht bewußt wurden, drehte sie das kalte Wasser ab und das heiße auf. Binnen Sekunden fühlte sie den kochenden Strahl auf ihrer Hand, die wegzuziehen sie sich zu schwach fühlte. Sie sah den Hof um den Mond und spürte, wie er sich in ihr Badewasser senkte, eine warme Strömung, die sich schleichend ausbreitete. Nun drang die Wärme in sie ein, doch war ihr unwohl dabei. Sie hatte das Gefühl, nichts mehr kontrollieren zu können. Lange lag sie so da in unaussprechlicher Angst, sie zu bewegen oder auch nur zu atmen. Sie spürte die Klinge an ihrem Hals, spürte mit jedem Haben ihres Brustkorbs den feinen Stahl sich millimeterweise auf- und abbewegen – oder schnitt er gar schon durch ihre Haut?

Mittlerweile standen Dampfschwaden im Raum, sie rang um Atem. Sie drehte das Wasser ab und spürte nun, daß das Wasser ihre Kehle umfaßte. Keine Klinge. Wäre Ertrinken wohl ein schlimmer Tod? Immerhin – ein freiwilliger Tod konnte kaum schlimmer sein als ein aufgezwungener. Sie probierte es, ließ ihren Kopf unter Wasser rutschen, zählte bis fünfzig und öffnete den Mund...

Hustend tauchte sie wieder auf. Jetzt war alles völlig klar. Entschlossen schraubte sie den Verschluß von der Flasche Badeschaum und goß den Inhalt restlos ins Wasser. Dann planschte sie so lange mit den Handflächen auf die Wasseroberfläche, bis sich ein Berg Schaum vor ihr auftürmte. Sie versuchte, den ganzen weißen Haufen auf einmal zu umarmen, spritzte weiße Flocken an die Wand, formte Schaumbällchen und zog die weißen Bläschenwolken zwischen den Handflächen zu langen Stegen auseinander. Als ihr das langweilig wurde, versuchte sie, aus dem Schaum die Luft herauszudrücken. Alle Blasen sollten zerplatzen. Doch auch diese Idee mußte sie aufgeben. Schließlich ließ sie sich erschöpft zurückfallen und trommelte noch eine Weile mit den Handflächen auf dem Wasser eine getragenen Rhythmus.

Jetzt liegt sie still. Die Schaumbläschen haben aufgegeben und zerplatzen ganz von selbst. Das Geräusch der Stille. Sie hört ihren Atem nicht mehr. Endlich Ruhe. Endlich Frieden. Morgen würde sie zwei Tests machen müssen.

–1998–